Der umgestülpte Handschuh
Stephan Berg

In der Erzählung Pierre Menard, Autor des Quijote beschreibt Jorge Luis Borges einen erfundenen Schriftsteller des frühen 20. Jahrhunderts, der sich eine scheinbar vollkommen unsinnige Aufgabe gestellt hat, nämlich die, den weltberühmten Don Quijote des Miguel de Cervantes vollkommen neu zu schreiben, ohne dabei einen einzigen Satz, ein einziges Wort, einen einzigen Buchstaben zu verändern. Was zunächst absurd anmutet, erweist sich bei näherem Blick als ein ungemein reizvolles philosophisches Problem, das um die Frage kreist, ob es möglich ist, etwas Bestehendes neu zu erschaffen, ohne es zu verändern, aber selbstverständlich auch, ohne es schlicht zu kopieren. In Borges Text bemerkt dazu der Erzähler: "Er wollte nicht einen anderen Quijote verfassen - was leicht ist - , sondern den Quijote. Unnütz hinzuzufügen, dass er niemals eine mechanische Transkription des Originals ins Auge fasste; er wollte nicht kopieren. Sein bewundernswerter Ehrgeiz war es, ein paar Seiten hervorzubringen, die - Wort für Wort und Zeile für Zeile - mit denen von Miguel de Cervantes übereinstimmen sollten.(1)

Innerhalb der Kunst wären zum Beispiel Duchamps Urinoir oder die Arbeiten der Appropriation-Art in einen solchen Zusammenhang zu stellen, dessen Wirksamkeit zentral mit einer entweder räumlichen, zeitlichen oder raumzeitlichen Kontext-Verschiebung verknüpft ist. Auch in Pierre Menard verweist der Erzähler auf diesen wichtigen Punkt : "(...) so ist mein Problem unbestreitbar bei weitem heikler als das von Cervantes. Mein nachsichtiger Vorläufer verweigerte sich nicht der Mitarbeit des Zufalls: Er schrieb das unsterbliche Werk ein bisschen à la diable, Trägheiten der Sprache und des Erfindungsvermögens hingegeben. Ich habe die geheimnisvolle Pflicht übernommen, sein spontanes Werk Wort für Wort zu rekonstruieren. (...) Zu diesen künstlerischen Hemmnissen kommt zwangsläufig ein weiteres, immanentes. Den Quijote am Beginn des 17. Jahrhunderts zu verfassen war eine vernünftige, notwendige, vielleicht schicksalshafte Unternehmung; zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist es nahezu unmöglich. Nicht umsonst sind seitdem dreihundert Jahre voll der verwickeltsten Tatsachen vergangen. Unter ihnen, um nur eine zu nennen, eben der Quijote." (2)

Das Entscheidende dieses Re-Konstruktionsversuchs (der übrigens, wie sollte es auch anders sein, schlussendlich Fragment bleibt), ist also der Raum, der sich zwischen den beiden scheinbar identischen, in Wirklichkeit aber durch ihre raum-zeitliche Differenzierung voneinander geschiedenen Werken auftut. Ein Raum, der es ermöglicht, das ursprünglich Gegebene ebenso wie das daraus Entstandene neu wahrzunehmen, weil man sich tatsächlich dazwischen befindet.

Martin Pfahlers Arbeit inszeniert mit einer beharrlichen Intensität diesen Zwischenraum, der das Vorbild und das Nachbild sowohl miteinander verknüpft wie voneinander trennt, als ästhetischen Denkraum. Bereits früh, nach ersten malerischen Anfängen, konkretisiert der Künstler dieses Arbeitsfundament durch eine konkrete Bezugnahme auf Architektur, genauer noch, auf die architektonische Schnittstelle zwischen öffentlichem und privatem Raum. Von diesem Interesse kündet bereits Passantenabwicklung (1992), die gleichzeitig die allmähliche Abkehr von einer rein bildhaften Ausdrucksweise zu einer räumlichen und später auch begehbaren Inszenierungsform einleitet. Pfahler hatte für diese Arbeit zunächst eine Passantin auf der Straße fotografiert, danach unterschiedliche Ausschnitte ihres Mantels 24 Mal auf Transparentpapier kopiert und als serielle Mustertapete auf die Wand aufgebracht, die durch eine ebenfalls mit Kopien beklebte, schräg von der Wand abstehende, offene Pappbox ein Stück weit verräumlicht wurde.

Schon hier wird deutlich, wie sehr das künstlerische Verfahren grundlegend von einer dialektischen Ambivalenzbewegung geprägt ist: Die realen Körper der Passanten, in deren Bezeichnung ja bereits das Moment der Passage, also des Übergangs steckt, entkörpern sich einerseits zu einer flachen Mustertapete und werden andererseits durch die aufgeklebte Pappbox doch wieder mit einem gewissen körperlichen Volumen aufgeladen. Ebenso widersprüchlich wird der öffentliche Raum, metaphorisiert durch den Mantel der Passantin und die einem Abfalleimer nachempfundene Pappbox, bearbeitet: Einerseits speist er sich als "wohnliche" Tapete in den Innenraum ein, andererseits bleibt die Konstellation aber durch das erkennbar aus der äußeren Welt stammende Tapetenmuster, sowie die in diesem Kontext deplatziert anmutende Öffnung in der Tapete, auch radikal fremd. Die collagierenden Aspekte dieser Arbeit tauchen auch in Nevada Schauplatz (1993) auf. Pfahler hatte hier einen Spielsalon fotografiert, in dessen Scheiben sich eine gegenüberliegende Häuserzeile spiegelte. Da die Architektur auf dem Foto mit der Architektur einer Schaufensterbox am Kempinski Plaza, auf die das Foto schlussendlich appliziert werden sollte, in Deckung gebracht werden musste, wurde das Foto zunächst mit der Schere in rohe Einzelteile zerschnitten und mit Tesa wieder so zusammengeklebt, bis die entsprechenden Proportionen erreicht waren. Die so montierte Vorlage wurde dann von einer Reproanstalt auf eine Gesamtgröße von drei mal acht Metern aufgeblasen und an Ort und Stelle installiert.

In street refuge, einer Installation, die Pfahler 1994 für die Drahtwerke in Nürnberg entwickelte, wird dann nicht nur der Übergang zu einem rein räumlich operierenden Verfahren vollzogen, sondern auch eine deutlich systematischere, zur modellhaften Analyse drängende Handschrift spürbar. Die Arbeit besteht aus 24 Segmenten und Fragmenten von auf der Straße gefundenen Obstkisten, die Pfahler für die Ausstellung nicht nur akkurat nachbaut, sondern deren Hohlräume er zum Teil auch mit eingefügten Gipsguss-Stücken buchstäblich materialisiert. Die Obstkisten fungieren dabei als metaphorisch eingesetztes Modell: Sie spiegeln den öffentlichen Raum und das Moment des Transportablen wie Passageren ebenso wie den Transfer vom Funktionsgegenstand zum wertlosen Abfall. Darüber hinaus sind sie als Kisten auch Platzhalter für die Idee des Raumes als einem Behältnis, das, ähnlich wie dies Manfred Pernice am Beispiel der Dose gezeigt hat, mit verschiedensten Formen und Eigenschaften gefüllt werden kann.(3)
Die Atmosphäre der Arbeit balanciert zwischen einem minimalistisch anmutenden topografischen Modell und einer Fundstück-Installation. Man könnte auch sagen: Ihr Drang zur Klärung, zur Purifikation ist ebenso groß wie ihr Hang zur Verunreinigung, zur Aufladung mit Alltäglichem. Zudem zeigt sich hier bereits eine Tendenz zu einer dialektischen Verklammerung von Raum und Körper, verbunden mit seiner gleichzeitigen Entkörperung, ja fast ist man versucht zu sagen, Phantomhaftigkeit, die allen neueren Arbeiten Martin Pfahlers wesentlich eingeschrieben ist. In street refuge findet man dieses Phänomen in einer signifikanten Doppelung: Zunächst in Form der Kisten, die als Nachbauten von real gefundenen Kistenfragmenten so etwas wie ihr eigenes Echo sind. Zum anderen im materiellen Hinweis auf deren Hohlräume durch beigefügte Gips-Passformen, die selbst dort Körper bilden, wo eigentlich nur Leere herrscht.

Der Titel Niemandsland, den der Künstler seiner Ausstellung in der Berliner Galerie ACUD (1996) gibt, beschreibt im Grunde das Gelände, auf denen Pfahler seine Investigationen unternimmt, recht gut. Die Orte, denen er sich widmet, sind die Zonen des Undefinierten, Randständigen, transformiert zu Konstellationen, die exakt zwischen funktionaler Konkretion und skulpturaler Modellhaftigkeit balancieren. Spezifisch wird dieser vor allem auf die gesichtslose Funktionsarchitektur der 70er Jahre reflektierende Zugriff durch ein systematisches Umstülpen der Kategorien des Innen und Außen, die sich in Pfahlers Arbeit als kontrastive Strukturen völlig auflösen. PIT STOP, 1998 für den Münchener Ausstellungsraum FOE 156 entstanden, zeigt eine scheinbar von einer Holz-Stütze gehaltene, beleuchtete gitterförmige Deckenstruktur, die aus Pappe und Pressspan gefertigt wurde. Dass dies ein Teil einer Tankstelle beziehungsweise einer Autowerkstatt aus den 70er Jahren sein könnte, legt die Ausgestaltung der Arbeit und ihr Titel gerade so weit nahe, dass der Gedanke plausibel wird. Interessanter für den Künstler ist dabei aber allemal, wie sich diese mögliche ursprüngliche Realität, unter der rekonstruierend modellhaften Aneignung und vor dem Hintergrund ihrer Translozierung verschiebt und möglicherweise neu entwirft.

Auch deshalb ist Pfahler der architektonische Horizont der 70er Jahre so wichtig für seine künstlerischen Überlegungen: weil die - in seinen Augen - in dieser Architektur enthaltene geradezu obsessive, funktionssüchtige Effizienz den perfekten Hintergrund dafür liefert, sie einer dysfunktionalen, modellhaften Bildlichkeit auszusetzen. In Pfahlers Rekonstruktion zeigt sich so etwas Doppeltes: die Dekonstruktion der Funktion und die Konstruktion des Funktionslosen zu einem sich selbst genügenden Bild. In PIT STOP lässt sich dieses Interesse an mehreren Aspekten der Arbeit nachvollziehen. Zum einen daran, dass die Gitterdecke, die eigentlich, folgt man der Konstruktionslogik, von ihrer Holz-Stütze getragen werden müsste, tatsächlich - deutlich sichtbar - von farbigen Spanngurten gehalten wird, die an der Oberlichtdecke befestigt wurden, und so die zwei Decken zu einem merkwürdigen Meta-Raum zwischen Innen und Außen verknüpfen. Zum anderen drückt sich diese Ent-Funktionalisierung auch darin aus, dass die Gitterdecke in einem nachgebauten Flurstück der Galerie ein weiteres Mal auftaucht, nun allerdings seiner Stütze beraubt und - scheinbar leicht verschoben - schräg im Gang verkantet.
Mit dieser zweifachen Rekonstruktion gelingt Pfahler die Etablierung des Raums als Zwischenraum. Alles, was wir sehen, alles worin wir uns bewegen, ist doppelt kodifiziert: Verknüpft mit der Realität, aus der es entnommen wurde und gleichzeitig autonomisiert zu einer Form modellhafter Reinheit, die ihre Suggestivkraft ein Stück weit auch der Tatsache entnimmt, dass sie, obwohl betretbar, wie ein unberührbares Bild funktioniert. Den ambivalenten Status seiner Arbeit zwischen Modell, Raum und Bild intensiviert Pfahler noch, indem er auch Teile der Räume, in denen er arbeitet, im Akt einer rekonstruierenden Konstruktion partiell verdoppelt und damit sowohl den Status des ursprünglichen Real-Raums als auch des neuen Modell-Raums in Frage stellt.

# RIFF aus dem Jahr 2000, wiederum für die Galerie FOE 156 entwickelt, ist ein Beispiel für ein solches Ineinandergreifen verschiedener Realitätsebenen. Im konkreten Fall wurde zunächst ein Teil des Galeriekorridors verkürzt und mit einer Wand verschlossen. Ein weiterer Teil der Gangwände wurde sodann an anderer Stelle in klassischer Trockenbautechnik mit Aluminiumprofilen und Rigips-Platten in der Galerie nachgebaut und als zwei gegeneinander leicht verschobene, nach einer Seite hin offene Rechtecke angeordnet. RIFF # FOE 156 ist somit, wie Pfahler schreibt, "Fragment des Galerieraums, das als begehbares Modell in der Galerie selbst errichtet wurde".(4) Diesen zunächst einfach anmutenden Rekonstruktions- und Transfer-Akt verrätselt der Künstler zum einen, indem er die Innen- und die Außenseiten als getrennte Elemente entwirft, die zudem noch raumlogisch vertauscht werden. Zum anderen baut er in diese Wände an verschiedenen Stellen fünf mit grünen Papp-Jalousien verschlossene Fenster ein, die es real im Galerieraum nicht gibt und die damit die bildhafte Tendenz der Arbeit deutlich unterstreichen. So wird aus der Rekonstruktion die Konstruktion eines Meta-Raumes, der sich eben so weit an die konkrete Realität rückbindet, dass er als Ableitung aus dieser Wirklichkeit erkennbar bleibt, und andererseits eine konsistente Rückübersetzung verunmöglicht.

Ein bisschen fühlt sich der Betrachter inmitten dieser Wand- und Raumfragmente wie in einer surrealen Situation. Er befindet sich in einem realen Raum und gleichzeitig in einer partiellen Rekonstruktion dieses Raumes, dessen Wände aber sowohl ihre Außen- als auch die normalerweise immer unsichtbare Innenseite ausstellen. Die Trockenbauweise erweist sich dabei auch deswegen als adäquat, weil sie der Verwirrung darüber, welchen Realitätsstatus die Einbauwände haben, nachdrücklich Vorschub leistet. Schließlich ist Trockenbau - das zeigt die blitzschnelle Verwandlung jedweden Innenraums in Büros, Supermärkte oder Ähnliches - auf eine vertrackte Art nichts anderes als die Koinzidenz von Architektur und Architektursimulation. Eine weitere Variante von # RIFF hat Pfahler 2002 für die Berliner 2yk Galerie eingerichtet. Auch hier arbeitet der Künstler mit einem Zugleich von exaktem Raumbezug und freier Erfindung, aber anders als im Vorgänger-Beispiel erscheinen die Wände nun als 50 Zentimeter breite Hohlkörper, die sich weniger als Kulisse, denn als skulptural-architektonische Setzung präsentieren. Die Modifikation dieser Wände, ihre Faltungen und Aufklappungen vergleicht der Künstler selbst mit dem Umstülpen eines Handschuhs. Man schlüpft in ihn hinein und entdeckt dabei, dass sich das Innere nun auf einmal außen befindet und dadurch die ganze Sache in einem
völlig anderen Licht erscheint, obwohl sie doch dieselbe geblieben ist. Es ist eben dieser Shift, der Pfahler beschäftigt: wie das Insistieren auf der Realität und Pragmatik des vorhandenen Raums diesen als Bild seiner selbst neu entstehen lässt und wie dieses Bild wiederum durch einige gezielte Modifikationen eine Wirklichkeit gewinnt, welche die ihr zu Grunde liegende Realität transformiert.

1 Jorge Luis Borges: "Pierre Menard, Autor des Quijote", in: J. L. Borges: Fiktionen, Erzählungen 193 - 1944. [Werke in 20 Bänden, Band 5], Hg. Gisbert Haefs und Fritz Arnold. Frankfurt / Main 1992, S. 39.
2 Ebda., S. 41 f.
3 Hanne Loreck: "street refuge - ein Modell", in: Martin Pfahler, Drahtwerke (Katalog). Nürnberg 1994, S. 3.
4 Aus einer Projektbeschreibung Martin Pfahlers.